Direkt zum Inhalt der Seite springen

Nicolas Korte | Detail

Macht (mein) agil nicht kaputt

Die ersten Coaches und Berater beginnen schon von „post-agilen“ Szenarien zu reden. Aus dem Kreis der Kunden höre ich verdächtig oft „Bei uns funktioniert dieses agil einfach nicht“ oder „jetzt sind wir agil, aber nichts hat sich verbessert“. Organisationsentwickler diskutieren, ob sie „agil“ als Begriff überhaupt noch benutzen wollen.

Ist dies jetzt der Abgesang einer gescheiterten Idee oder die Immunreaktion eines „altbewährten Systems“, dass sich durch agile Unternehmen bedroht fühlt ? Ist die Idee zu groß geworden, um sie gewähren zu lassen ?

In dem Zusammenhang möchte ich zunächst einmal meine Wahrnehmung teilen, wie sich agile Ideen über die Zeit durch unterschiedliche Branchen entwickelt haben und was dabei passiert ist.

Der Ursprung

Der Ursprung liegt im agilen Manifest, einem Dokument, in dem 17 Softwareentwickler im Februar 2001 Prinzipien der agilen Projektbearbeitung festgelegt haben. Die Initialzündung läßt sich also eindeutig in der Softwarebranche verorten. Einer Branche, die nicht nur seit vielen Jahren ungeheuren Dynamiken unterliegt, sondern in der auch viele erfolgreiche Unternehmen aus Garagen mit Turnschuh- und Pizzamentalität  gegründet wurden und gewachsen sind. Eine Branche, in der aufgrund der extrem hohen Marktdynamiken agile Frameworks wie z.B. Scrum nicht nur unmittelbar die Projektbearbeitung verbessert haben, sondern in der auch flache Hierarchien der Regelfall sind und Strukturen mit geltungsbedürftige Managern eher selten zu finden sind. Insofern fällt es Unternehmen aus der Softwarebranche auch meist nicht schwer, nicht nur agile Methoden anzuwenden, sondern sich auch als Organisation agil aufzustellen.

Nicht umsonstsind heute immer noch die meisten agilen oder gar holokratisch aufgestellten Unternehmen in hochdynamischen, softwareaffinen Unternehmen der digitalen Dienstleistungen oder des Marketings zu finden

Der erste "Branchensprung"

Nach meiner Wahrnehmung geschah der erste „Branchensprung“ in die Banken- und Versicherungswelt. Nicht nur, dass Unternehmen dieser Branchen aufgrund der Marktsituation, der erfolgreichen Fin-Techs und den veränderten Bedürfnissen der jüngeren Generationen unter gehörigen Druck gekommen sind. Ihre Wertschöpfungskette beruht auch zu nicht unerheblichen Teilen auf Softwarearchitekturen, die Kunden, Konten und Geldströme abbilden. Was war also näher, als genau hier mit agilen Methoden frischen Wind reinzubringen, zumal in Teilen der Versicherungswirtschaft die Softwarearchitektur vor einer Komplettrenovierung steht.

Leider geht beim Sprung von Methodenbenutzung auf die Organisationsebene dann einiges schief. Agil werden unterhalb der 3. Führungsebene ist die Devise, denn das Infragestellen gewohnter Machtstrukturen kommt auf keinen Fall in Frage. Räume mit Kicker, Tischtennisplatte, Playstation und Wii, aber am Eingang bitte ausstempeln, spielen ist schließlich keine Arbeitszeit. Cargokult meets Kontrollwut und am Ende heißt es : „Unsere Mitarbeiter sind nicht bereit, die in einer agilen Organisation notwendige Verantwortung zu übernehmen.“ Ja warum denn nur ?

"Agil" als Geschäft

Praktisch zeitgleich gibt es einen Katalysator für diese Entwicklung. Man greift gerne auf die klassischen Berater zurück, denn „die kennen wir halt“. Und diese entdecken Agilität als neue Gelddruckmaschine. Ohne sich mit dem Thema eingehend zu beschäftigen oder gar dahinter zu stehen, werden vorhandene Konzepte umbenannt, althergebrachte KPI´s zu OKR getauft und die Matrixorganisation als die „agilste aller agilen“ Organisationsformen verkauft. SaFe ist der neue heiße Scheiß, denn Skalierung kommt bei Bankern tendentiell immer gut an. Stimmt, nur agil ist es leider dann nicht mehr. Happy End derzeit nicht in Sicht, denn das Unheil nimmt seinen vorhersehbaren Lauf … .

Dazu passen dann natürlich auch neue Schulungsangebote, so wie die, die mir Christian Müller von pro.agile in die Twitter-Timeline gespült hat. Schulungsinhalte wie „Steuerung nach Agile“ , „Denkweise nach Agile Methodik“, „Vorsprung im Projekt durch Psychologie“ oder „Agilität und Männlichkeit“ zeugen für mich nur von einem, nämlich das die Anbieter Agil schlichtweg nie verstanden haben.

 

Next stop old economy

Und jetzt steht der Sprung in die klassische Industrielandschaft bevor. Unternehmen, geführt von Ingenieuren und Betriebswirtschaftlern, die im Studium und danach stets gelernt haben, dass Organisationen nach dem Ursache – Wirkungs – Prinzip funktionieren wie eine Mischung aus Maschine und Excel.

Branchen, denen es überwiegend noch gut geht und der wahrgenommene Veränderungsdruck ausgesprochen gering ist. In weiten Teilen gibt es eine Affinität zu Digitalisierung, aber mit der Softwareerstellung haben die allermeisten Unternehmen nichts am Hut und somit auch keinerlei Erfahrung mit agilen Methoden. „Das haben wir doch schon immer so gemacht“ ist landläufig geächtet, wird aber an passender Stelle gerne noch selber benutzt. Und auch hier stellt sich die einschlägige Beraterlandschaft schon auf. „Agil ist was für Softwareunternehmen, für ihr Unternehmen haben wir da was angepasstes“, quasi die Geburtsstunde des hybriden Modells. „Übernehmen Sie agil, da wo es ihnen passt (und der status quo nicht gefährdet ist) und den Rest machen wir für Sie effizienter.“

Überhaupt „effizient“. Das Wort, mit dem man jeden Geschäftsführer im deutschen Maschinenbau rumbekommt, wird vermehrt im Zusammenhang mit dem Ziel agiler Transformationen benutzt. Wer Effizienz, Kosteneinsparung und Personalabbau in den Mittelpunkt einer Transformation stellt, spricht auf jeden Fall von einem anderen „agil“ als ich.

Ist die Lage also schon an einem Punkt hoffnungslos, an dem nur ein minimaler Bruchteil der klassischen deutschen Industrie mit den Prinzipien agiler Organisationen beschäftigt hat ?

Brücken bauen

Ich lasse mir „mein“ agil und die damit verbundenen positiven Erlebnisse und Erfolge jedenfalls nicht kaputt machen. Ich glaube daran, dass auch in der „old economy“ agile Modelle ihre Berechtigung haben. Viele Branchen, nach meinen Einschätzungen an vorderster Stelle der deutsche Maschinenbau, werden in wenigen Jahren insbesondere durch die chinesischen Konkurrenz unter erheblichen Druck kommen und eine stetig steigende Dynamik am eigenen Leib erleben.

Agilität kann für mich nur aus zwei Gründen „nicht funktionieren“. Sie passt als Lösung nicht zum Problem des Unternehmens oder die Umsetzung ist einfach mangelhaft und unaufrichtig. An den Menschen in den Unternehmen liegt es jedenfalls nach meiner Erfahrung nicht.

Warum ich das überhaupt schreibe ?  Un- und Missverständnis kann nur mit Information und Dialog begegnet werden. Dies ist der Auftakt zu einer mehrteiligen Blogreihe, in der ich in der Folge darstellen möchte, wie ich Agilität in produzierenden Industrieunternehmen interpretiere und dann die Prinzipien des agilen Manifestes in Maschinenbau „übersetze“.  Brücken bauen zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte.